Vorschau im ZOL, 21.11.18

Konsumkritik im Glitzerkleid

USTER
Die Ustermer Theatergruppe Theater topoï:log katapultiert Bertolt Brechts Gesellschaftskritik in die Gegenwart und stellt ihr künstliche Intelligenzen sowie Fake News gegenüber.

Aufreizend räkelt sich eine Frau mi kurzen blonden Locken auf dem roten Plastiksessel. Hinter ihr spielt der glitzernde Vorhang mit dem bunten Scheinwerferlicht. Tiefe Saxophontöne und das Kostüm schaffen eine 1920er Jahre Atmosphäre wie in einem Boheme-Cabaret in Berlin. Die Frau singt ihre letzte Strophe und schlägt die Augenlider schwermütig nieder. Die Musik verstummt. »Künstliche Intelligenzen sollen heute alles lernen können. Sogar Mitgefühl. Doch wer bringt ihnen ihren Wertekodex bei?«, fragt sie nun direkt in das Publikum.

Wir befinden uns an der Probe eines Stückes mi einem selten komplizierten Namen: »Revue? Revue! un_behaust – Eine Orientierung mit Brecht_Weill« vom Ustermer Theater topoï:log. Der Titel sei mit Absicht ein bischen kryptisch formuliert, sagt Katrin Segger, die die blonde Frau auf der Bühne mimt. Diese war übrigens während der ersten Proben noch schwarzhaarig (siehe Bild). Gemeinsam mit der Zürcher Dramaturgin Anke Zimmermann hat die freie Ustermer Schauspielerin zu Bertolt Brechts und Kurt Weills Liedern Texte verfasst, die ihre Sozialkritik in die heutige Zeit transportieren. Zimmermann, die bei dem Stück Regie führt, erklärt den Titel so: »Unser Stück ist im Stil einer Revue gehalten mit Musik, Outfits und Gesang. Der Inhalt ist aber ernst und damit nicht Revue-typisch. Unbehaust ist ein Wort, das einen stutzen lässt. Es beschreibt das Gefühl der Einsamkeit in einer Welt, die sich immer mehr auseinanderlebt. Den Unterstrich nach dem Un haben wir als Stolperstein eingebaut, damit man diese Absenz spürt.«

Aufrüsten der Geschenke

»Brecht ist zeitlos«, sagt Segger. Seine Lieder könne man immer aufgreifen. „Wir haben uns jetzt für ihn entschieden, weil es auffallend viele Parallelen zwischen den 1920er Jahren des 20. und 21. Jahrhunderts gibt.“ Vieles, was die damalige Zeit prägte, sei auch heute wieder aktuell: »Wegen der Digitalisierung verändert sich der Arbeitsmarkt laufend. Es herrscht allgemeine Unsicherheit. In der Politik braut sich etwas zusammen. Man weiss nur nicht genau, was«, so Segger.
In »un_behaust« finden Brechts grosse Themen Moral und Unsicherheit Niederschlag. In den modernen Dialogen entstehen absurde Situationen. Etwa, was passiert, wenn guter Geschmack zum Statussymbol wird, oder wenn Weihnachten die Minimalisten zu geschenketechnischem Aufrüsten bewegt.

Die beiden Theatermacherinnen kennen sich noch aus der Zeit, als die topoï:log-Gruppe gegründet wurde. Für den musikalischen Part holten sie den Zürcher Musiker Florian Haupt dazu. Zu dritt arbeiteten sie ein knappes halbes Jahr am Stück. Haupt tritt mit „un_behaust“ zum zweiten Mal in Uster auf. Er spielte auch im Frühling bei den Ustermer Konzerten für Frühaufsteher mit. Dort zeigten er und Katrin Segger bereit einige der Lieder, die am Mittwochabend im Central gespielt werden.
Brecht und Weill haben kurz aber intensiv zusammengearbeitet: von 1928 bis 1933. »Direkt nach der Premiere wurde ihre Oper von der NSDAP unter dem Label „entartete Kunst“ von der Bühne verbannt«, sagt Haupt. Viele der Brecht-Weill-Lieder wurden zudem für ein vielstimmiges Orchester geschrieben. „Teilweise mussten wir sechs Stimmen auf eine einzige umschreiben.“
Nicht nur die Lieder haben einige Jahre auf dem Buckel, auch die Instrumente, die bei „un_behaust“ zum Einsatz kommen, kann man schon fast antik nennen. »Keines der Saxophone ist jünger als 50 Jahre«, sagt Florian Haupt. Das kleinste und älteste habe er kurz nach seinem Studium auf ricardo.ch für 100 SFR erworben, um es dann für mehrere tausend Franken revidieren zu lassen.

Der Klang der Saxophone erinnert etwas an die Dynamik von Filmmusik. Mal könnte sie einen Kindercomic begleiten, mal wird es dramatischer. Zwischendurch entsteht ein Dialog zwischen Schauspielerin und Musik.

Veranstalter im Publikum

Fest geplant ist bisher nur diese eine Aufführung im Central heute Mittwochabend. Bei dieser vorerst exklusiven Vorstellung werden aber einige Veranstalter sitzen, verrät Segger. Sie hofft, dass so weitere Aufführungen folgen werden.

Deborah von Wartburg

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